Warum sagt man: Das Immunsystem sitzt im Darm?

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Häufig liest man, dass unser Immunsystem hauptsächlich in unserem Darm sitzt. Manche werden genauer und sagen, dass 80 % unserer Abwehrkräfte dort wohnen. Aber wie muss man sich das vorstellen? Dass dort die meisten Abwehrzellen gebildet werden? Oder sind sie dort vorrätig? Oder werden sie dort irgendwo gespeichert und bei Bedarf ausgesandt? 

Was sagt die Literatur?

Liest man im Pschyrembel unter dem Stichpunkt „Immunsystem“ findet man zunächst einmal gar keinen Hinweis auf den Darm, dafür aber eine Menge Fachwörter wie: angeborenes Immunsystem vs. erworbenes. Es gibt Antigene und Antikörper, Immunglobuline, Makrophagen, T-Zellen, B-Zellen und Granulozyten und noch vieles mehr. Also hat das Immunsystem vielleicht doch eher gar nichts mit dem Darm zu tun?

Im Buch „Mensch, Körper, Krankheit“ aus dem Hause Elsevier findet man dann im Kapitel „Zellen des Immunsystems“ den Hinweis, dass die Abwehrzellen im Knochenmark gebildet werden. Also nicht im Darm. Außerdem halten sich 90 % dieser Immunzellen in den lymphatischen Organen, den Lymphgefäßen und der Substanz zwischen unseren Zellen auf. Nur 10 % befinden sich im Blut. Auch kein Hinweis auf den Darm.

Ist es also ein Märchen, dass das Immunsystem hauptsächlich im Darm ist?

Es hat vermutlich damit zu tun, dass sich die Literatur unter dem Stichwort „Immunsystem“ ausschließlich mit der körpereigenen Abwehr beschäftigt. Dabei fehlt die Erwähnung der lebensnotwendigen, unzähligen Bakterien und Pilze, die sich auf unserer Haut und allen Schleimhäuten befinden und mit denen wir in Symbiose leben: Wir geben ihnen etwas und sie geben uns etwas zurück. 

Dass wir sowohl die Bakterien als auch die Pilze zum gesunden Leben brauchen, zeigen verschiedene Studien an keimfreien Mäusen. Keimfrei bedeutet hier, dass sich weder auf der Haut noch auf Schleimhäuten oder im Darm Bakterien, Pilze oder Viren befanden. Sie wurden per Kaiserschnitt geboren und dann in sterilen Behältern gehalten. Auch das Futter war keimfrei, sodass sich im Darm keine Bakterien ansiedeln konnten. Die keimfreien Mäuse waren deutlich aktiver und hatten weniger Angst. Das könnte nun zunächst einmal positiv klingen. Leider ging dies aber auch so weit, dass sie Lebensgefahren in Kauf nahmen. Sie entwickelten schneller Autoimmunkrankheiten, wie Asthma, chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED) oder Diabetes I. 

Es zeigt sich, dass das körpereigene Immunsystem ohne die Darmmikroben sehr viel aktiver ist, dadurch aber häufig übers Ziel hinausschießt und die eigenen Körperzellen angreift. 

Kommen diese keimfreien Mäuse dann doch einmal mit einem Keim in Berührung, ist das Risiko, daran zu sterben sehr viel höher als bei Keim-erfahrenen Mäusen. Ihr Immunsystem ist schlichtweg nicht trainiert. Das Motto des Abwehrsystems „erkennen, überprüfen, antworten“ funktioniert nicht richtig, weil sie sozusagen keine Erkennungssoftware installiert haben. Daher müssen die Zellen nach eigenem Ermessen reagieren und das geht dann oft schief. 

Das darmeigene Abwehrsystem

Wie Giulia Enders in ihrem informativen wie humorvollen Buch „Darm mit Charme“ erläutert, befinden sich in unserem Darm (hauptsächlich im Dickdarm) 2 kg Darmmikroben. (Kleiner Exkurs: Wenn man fastet, nimmt man nicht nur an Wasser, Fett und Muskelmasse ab, sondern auch an Darmmikroben.) Diese 2 Kilogramm entsprechen ungefähr 100 Billionen Bakterien. Im Vergleich zu den körpereigenen Abwehrzellen könnten dies möglicherweise die 80 % sein.

Die Aufgaben, die die fremden Bakterien für unseren Körper erfüllen, sind vielfältig. Sie verdauen z. B. für uns unverdauliche Ballaststoffe und stellen sie uns als lebensnotwendige Fettsäuren wieder zur Verfügung. Leider produzieren sie dabei auch immer ein bisschen Luft, sodass das dann bei vielen Ballaststoffen auch manchmal zu viel Luft führen kann. Andere Bakterien stellen aber auch z. B. B-Vitamine her. 

Es gibt Bakterien, die man sich wie kleine Putzerfische vorstellen kann, die unsere Darmschleimhaut „sauber“ halten. 

Die Milchsäurebakterien (Laktobazillus oder Bifido) kennt wahrscheinlich jeder vom Joghurt oder Sauerkraut. (Rezepte dafür finden Sie hier und hier.) Diese produzieren Milchsäure, und dadurch entsteht ein Milieu, in dem manche ungesunde Keim nicht überleben können. 

Wieder andere Bakterien nehmen einfach einen Platz ein, den dann ungesunde Bakterien nicht besetzen können. 

Bisher hat man noch bei Weitem nicht alle Bakterien und deren Aufgaben entschlüsseln können. Denn viele von ihnen brauchen genau diese Temperatur, diese Umgebung, bestimmte andere Bakterien etc., um überhaupt leben zu können. Dies kann man nicht immer in einem Reagenzglas nachahmen. 

Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Mikroben in unserem Darm schon eine Menge schädlicher anderer Mikroben eliminieren und unser körpereigenes Immunsystem deshalb viel weniger zu tun hat. Da sie mit uns zusammenleben, kann man sie als Teil unseres Körpers zählen. So kommt die Aussage zustande, dass 80 % unseres Immunsystems im Darm wohnt. 

Quellen:

https://cordis.europa.eu/article/id/33024-eufunded-study-gut-bacteria-key-for-brain-development/de

https://science.sciencemag.org/content/336/6080/489.abstract

https://www.nature.com/articles/ncomms8735

Pschyrembel (2017): Klinisches Wörterbuch, 267. Auflage; Berlin/Boston

Giulia Enders: Darm mit Charme – Alles über ein unterschätztes Organ

Huch, Renate und Jürgens, Klaus D. (2015): Mensch, Körper, Krankheit, 7. Auflage; München.

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